Leider waren die Weisheitszähne verdächtig, meine untere Zahnreihe etwas verschoben zu haben. Außerdem plagten mich alle paar Monate fiese Entzündungen, während denen ich die Zähne am liebsten sofort hätte rausnehmen lassen. Aber das geht natürlich mit Entzündung nicht. Und sobald die dann vorbei war, war auch meine Motivation wieder auf dem Nullpunkt.
Letztlich war ich dann doch irgendwann beim Arzt – genauer beim Kieferorthopäden, der meine untere Zahnreihe wieder schön in Ordnung bringen sollte. Da er früher auch mal Kieferchirurg gelernt hatte, meinte er, dass er dafür natürlich erst mal die Weisheitszähne rausnehmen müsste. Keine große Überraschung.
„Alle auf einmal oder erst mal zwei?“
„Hmm, was raten Sie mir denn?“
„Alle auf einmal, sonst haben Sie nach dem ersten Mal vielleicht keine Lust mehr und kommen nicht mehr wieder. Dann können Sie zwar die ersten Tage kaum noch essen, aber da hätten Sie wahrscheinlich auch ansonsten keine große Lust drauf.“
„Aha. Hmm. Okay, dann alle auf einmal! Funktioniert das denn mit örtlicher Betäubung?“
„Jaja, das geht schon. Hab ich bei mir selbst damals auch so machen lassen. Wir können auch zwischendrin mal eine kleine Pause machen. Aber bei Ihnen schauen alle vier Zähne ja schon mindestens zur Hälfte raus.“
„Wie lange dauert das denn voraussichtlich?“
„Naja, die Wurzeln der unteren Zähne haben sich so ein bisschen verbogen. Schauen Sie mal auf dem Röntgenbild, die hier sieht beispielsweise aus wie ein Angelhaken. Das dauert schon ein bisschen länger. Aber in 90 Minuten haben Sie es bestimmt hinter sich.“
90 Minuten, uiuiui. Aber ein zweites Mal wollte ich dafür tatsächlich nicht kommen. Also doch gleich einen Termin für alle vier vereinbart.
Am Vorabend der OP noch für den nächsten Morgen ein Taxi bestellt. Morgens dann gleich zu spät dran, ewig die Kopfhörer fürs Handy gesucht, auf das ich mir vorsichtshalber gleich drei Stunden Musik gespielt hatte. In der Praxis noch ein paar Formulare ausgefüllt („Gerne willige ich ein, dass ich auf sämtliche Ansprüche verzichte, falls der Chirurg mal abrutscht und mir dabei aus Versehen weitere Nasenlöcher in den Kopf meißelt“, oder so ähnlich.)
Dann ging‘s auch schon los: Erst mal betäuben. Zum Glück hab ich die Spritzen kaum gemerkt. Ging ganz fix. „Ich komme in einer Viertelstunde wieder“, verabschiedete sich der Chirurg und ließ mich allein. Das war dann nicht so schön, denn in der Zeit kam dann doch der eine oder andere negative Gedanke hoch: „Klappt das alles? Kriegt er diese Angelhakenwurzel wirklich raus? Was ist, wenn es viel länger als 90 Minuten dauert? Und warum hab ich nur diese nervige Chartmusik mitgenommen?“
Eine der netten Helferinnen kam aber zum Glück immer wieder rein und beruhigte mich durch ihr Lächeln. Nach ein paar Minuten war alles taub und der Arzt fing an. Da ich ein Tuch über dem Kopf und Kopfhörer in den Ohren hatte, bekam ich erst mal kaum was mit. Irgendwann wurden die Geräusche am Kieferknochen allerdings sehr laut. Es half schließlich auch nicht mehr viel, die Musik noch weiter aufzudrehen. Der Arzt schien sich buchstäblich richtig reinzuhängen, um den Zahn rechts oben rauszuhebeln. Dann schien es endlich geklappt zu haben, zumindest fühlte es sich so an, doch er bearbeitete mein Zahnfleisch an dieser Stelle weiter. Irgendwelche Wurzelteile des dicken weißen Brummers schienen noch tief im Kiefer verankert. „Na hoffentlich wird das noch was!“, dachte ich.
Ohne großartige Fortschritte auf der rechten Seite ging es anschließend erst mal links weiter. Und tatsächlich: Nach gefühlten fünf Minuten war es unter gewaltigem Knirschen gelungen, das ganze Ding in einem Stück zu entfernen. „DER ERSTE IST DRAUSSEN“, informierte mich die Helferin wie einen nervös wartenden Vater bei der Mehrlingsgeburt und legte mir dabei angenehmerweise sanft ihre Hand auf die Schulter, wohl weil ich durch ihr lautes Rufen etwas zusammengezuckt war. Ohne groß Zeit zu verlieren kümmerten sich die fiesen Bohrer und Hebelwerkzeuge anschließend gleich wieder um die rechte Seite. Nach weiteren gefühlten zehn Minuten wurde plötzlich das Tuch von meinen Augen genommen und ich sah den Arzt etwas verdutzt an: War ich zwischenzeitlich weggenickt und hatte vom Rest der OP nichts mitbekommen? Dagegen sprach, dass in der kleinen Schale auf dem Tisch nur zwei Zähne lagen (allerdings in drei Teilen). „Leider stecken die Dinger so bombenfest im Kiefer, dass ich für die Unteren einen OP bräuchte. Oben war schon eine Wurzel abgebrochen, die ich kaum herausbekommen habe. Ich muss Sie leider für den Rest an einen Kollegen überweisen.“ Na super! Nochmal alles von vorne! Wäre ja auch zu schön gewesen.
Nur die Helferin ließ sich ihre gute Laune nicht nehmen. Selbst mein leicht angewiderter Gesichtsausdruck konnte sie nicht davon abhalten, mir die blutigen Zahnteile unter die Nase zu halten: „Schauen Sie mal, hier hängt sogar noch ein Stück Knochen dran. Soll ich Ihnen die Zähne einpacken?“ „Nein, danke!“
Zu Hause wartete ich dann im Bett liegend auf die Schmerzen. Kamen aber keine. So nahm ich nicht eine der auf dem Nachttisch wartenden Tabletten, weder am OP-Tag, noch an den darauf folgenden. Und obwohl ich meine Backen nur sehr nachlässig gekühlt hatte, trat nicht mal eine Schwellung auf. Selbst den Mund konnte ich weiterhin problemlos öffnen, so dass ich am nächsten Morgen schon vorsichtig ein kleines Frühstück (Croissant) zu mir nehmen konnte (das ging allerdings dann doch nur begrenzt gut…). Obwohl ich ahnte, dass die Angelhakenwurzeln unten wohl mehr Probleme bereiten würden, vereinbarte ich nach dem Frühstück gut gelaunt den nächsten Termin.
Zwei Wochen später hastete ich auf der Suche nach den Kopfhörern wieder schwitzend durch die Wohnung. Diesmal allerdings ohne Erfolg: Die musste ich wohl beim letzten Mal in der Praxis liegen gelassen haben. Langsam stieg ein wenig Panik in mir hoch, denn diesem fiesen Knirschen, Bohren, Hämmern wollte ich mich ohne Ohrenschutz auf keinen Fall aussetzen. Aber vielleicht gibt es bei diesem Arzt ja auch einen MP3-Player zu leihen, beim ersten wurde mir tatsächlich einer angeboten.
„Nein, MP3-Player zum Verleihen haben wir leider nicht“, zerstörte die Helferin meine Hoffnungen brutal. „Aber der Doktor hört während der OP oft Musik.“ Kein gleichwertiger Ersatz, aber immerhin ein Silberstreif am Horizont. Nach einer Weile im Wartezimmer durfte ich mich schon mal in den ersten der beiden Behandlungsräume begeben. Nach den letzten Erfahrungen war ich ganz locker. Bis die Spritzen gesetzt wurden. Denn die taten diesmal weh, obwohl ja nur der Unterkiefer betäubt werden musste. Knappe zehn Minuten später wurde ich dann in den zweiten Raum gebeten. Tatsächlich lief dort bereits klassische Musik. Ohrenbetäubender Trash-Metal wäre mir zwar lieber gewesen, zumindest besser als nichts.
Ich weiß gar nicht mehr, ob mir wieder ein Tuch auf die Augen gelegt wurde, die hatte ich aber sowieso die ganze Zeit fest geschlossen. Alles dauerte wohl etwa 40 Minuten und war wiederum ein hartes Stück Arbeit für den Chirurgen, diesmal war ich während des Eingriffs aber noch ruhiger, wohl weil er wahnsinnig viel Professionalität und Routine ausstrahlte. Auch die Geräusche waren lang nicht so schlimm wie befürchtet. Am Schluss, als links genäht wurde, tat es auf einmal sehr weh. Jeder Stich war die Hölle und ich hatte Tränen in den Augen, als ich endlich aufstehen durfte. Der Grund dafür, dass die Betäubung stellenweise nicht richtig wirkte, war anscheinend eine Zyste, die sich hinter dem Weisheitszahn gebildet hatte. Im Nebenraum durfte ich mich dann noch einmal kurz hinlegen und ausruhen, während mir der Arzt eröffnete, dass es „dick und doof“ würde. Er hätte sich nämlich ziemlich weit in den Kiefer vorarbeiten müssen, um die feinen, verbogenen Wurzeln restlos zu entfernen. Dann bekam ich noch zwei Kühlkissen sowie einen Termin zum Fädenziehen mit und ging raus, um mir ein Taxi zu suchen. Dem Fahrer schrieb ich die Adresse auf, weil ich noch 10 Minuten fest auf die Tamponaden beißen sollte, um den Blutfluss zu stillen. Am Ende der Fahrt fragte mich der Fahrer, der mich zu Beginn offenbar für stumm oder einen Touristen gehalten hatte: „Zahnarzt?“ „Hmmhmm“ stimmte ich zu und stieg unter seinen mitleidigen Blicken aus.
Diesmal brauchte ich auch etwas gegen die Schmerzen, als die Betäubung nach etwa 3 oder 4 Stunden nachließ. Ein pochender Druckschmerz fing an, sich im Knochen breit zu machen. Zwei Ibuprofen 200 in Pulverform wirkten aber Wunder und keine fünf Minuten später waren die Schmerzen fast vollständig verschwunden, worauf ich erst mal einschlief. Den Rest des Abends und der Nacht kühlte ich wie ein Weltmeister. Trotzdem hatte ich am Morgen recht dicke Backen, die Schmerzen blieben aber glücklicherweise auf ein Minimum beschränkt. Auch mit der Mundöffnung hatte ich am nächsten Tag ziemliche Probleme.
Auf Tütensuppen und Apfelmuß hatte ich schon bald keine Lust mehr. Allerdings lag auch noch die Speisekarte von Call-A-Pizza auf dem Tisch und setzte mich wirklichen Qualen aus. Ich überlegte mir, wie viel ich wohl bereit wäre für eine Pizza mit 4 Käsesorten zu bezahlen, wenn ich meinen Mund öffnen und sie schmerzfrei genießen könnte. Ich weiß nur noch, dass es ungefähr an einen Wochenlohn herankam. Dieser Hunger machte mir wirklich am meisten zu schaffen.
Die nächsten Tage bestanden dann aus Fernsehen, lesen, die Wunden spülen und mich wieder an feste Nahrung gewöhnen (dauerte aber wirklich eine ganze Woche). So richtig „dick und doof“ wurde es zum Glück aber nicht mehr. Dann wurden auch schon die Fäden gezogen. Ich machte mir deswegen doch einige Sorgen, weil ich den Mund noch immer kaum aufbekam. Wie, um Himmelswillen, sollte der Arzt denn soweit in meinem Rachen kommen, um die Dinger zu entfernen? Überraschenderweise klappte das dann aber sehr gut und tat überhaupt nicht weh.
Rückblickend ließ sich doch alles recht gut aushalten, vieles war unangenehm, einiges schmerzhaft, und ich empfehle jedem, sich vorher nochmal richtig satt zu essen (leider klappt das ja meist nicht so gut, wenn man aufgeregt ist). Obwohl sich die ganze Sache bei mir etwas schwieriger gestaltete, kann ich jedem nur empfehlen, die Dinger schnellstens rausnehmen zu lassen, falls es denn sein muss. Okay, ein guter Arzt, ein gutes Schmerzmittel und etwas Glück gehören dazu, aber die Entzündungen vorher waren zumindest bei mir auch sehr unangenehm. Und bei wem sich die Schmerzen nachher in Grenzen halten, kann sich immerhin ein paar gemütliche Tage zu Hause machen. Nur auf Kochsendungen sollte man dabei unbedingt verzichten.
5 Kommentare zu Stefan, 32: “Schauen Sie mal, hier hängt ein Stück Knochen dran…”